Vom gemeinschaftlichen Wohnen und dynamischen Dämmen

Vom gemeinschaftlichen Wohnen und dynamischen Dämmen

Innovatives Projekt in den Wolfsburger Hellwinkel Terrassen zum Tag der Architektur geöffnet.


Der Tag der Architektur öffnet in jedem Jahr die Türen neuer Wohnungsbauten für einen seltenen Blick hinter die Kulissen. In diesem Jahr zählt der Wohnzwilling in Wolfsburg sicher zu den innovativsten Projekten, weil er sowohl bauphysikalisch, als auch architektonisch außergewöhnliche Wege beschritt. Peter Teicher, der für den Entwurf ursprünglich im Büro RTW Architekten Hannover verantwortlich zeichnet, und Daniel Manthey als Projektentwickler bieten Führungen durch das Gebäude an, das Manthey selbstbewusst als „kybernetisches Leuchtturmprojekt“ bezeichnet.
Insgesamt 46 Neubau-Eigentumswohnungen entstanden hier im westlichen Bereich des innerstädtischen Wohnquartiers Hellwinkel Terrassen, das in sechs streifenförmigen Terrassen in ein leicht geneigtes Gelände eingebettet ist. Auf dem Areal waren zuvor zwei Kleingartenanlagen, die in zentraler Innenstadtlage aufgegeben wurden. Die ersten Eigentumswohnungen wurden im Mai 2020 bezogen.
 

Blick von Südwesten auf den Wohnzwilling. Über einem dunklen Sockelgeschoss prägt die ausgewöhnliche Fassade aus Polycarbonat-Platten die Gestaltung des Wohngebäudes.

 

Die P+D Wohnkonzepte GmbH aus Hameln/Hannover hatte sich 2016 an einem Investorenauswahlverfahren der Stadt Wolfsburg mit dem besonderen Gebäudekonzept beteiligt und den Zuschlag für das Baufeld H erhalten. Die Grundlage für das Verfahren bildeten neben dem städtebaulichen Konzept des Büro SMAQ Architekten und Stadtplaner, Berlin drei Gestaltungshandbücher, die im Baudezernat der Stadt Wolfsburg entwickelt wurden. „Gerade weil Wohnen heute eine dringliche und hoch relevante Aufgabe ist und Wohnungsbau aktuell zu den wesentlichsten Bausteinen der Stadtentwicklung zählt, liegt hier eine große planerische Verantwortung“, unterstreicht Stadtbaurat Kai-Uwe Hirschheide.
Die vor etwa zehn Jahren definierten Grundthemen sind als planerische Zielstellung hinlänglich bekannt: die Stadt der kurzen Wege und zukunftsfähige Mobilitätsformen, die Rolle des Freiraums für eine integratives und Generationen übergreifendes Miteinander, klimagerechtes Bauen durch bewussten Einsatz der Materialien und in der Anwendung regenerativer Energien. „Wesentlich ist für uns als Kommune, ob sich die planerischen Ziele in der Abstimmung mit unterschiedlichen Investoren und Wohnungsgesellschaften auch in die Tat umsetzen ließen“, erklärt Hirschheide. „Der Wohnzwilling zeigt, dass wir uns heute an unseren Vorgaben des Gestaltungshandbuchs auch messen lassen können.“
 
Neue Formen des Zusammenlebens und ein grünes Wohnzimmer

Durchdacht und offen wirkt gerade die Erdgeschosszone mit ihrem großzügigen durchgesteckten Foyer, das als gläserne Fuge die beiden Gebäudeteile verbindet. In einer Art Tribünensituation nutzt sie mit drei Sitzstufen den Terrassensprung um ein halbes Geschoss von Süden nach Norden geschickt aus – geeignet für kleine Eigentümerversammlungen, aber auch den gemeinsamen Weihnachtsbaum, der auch in den kontaktarmen Monaten der Corona-Pandemie aufgestellt und gemeinsam geschmückt wurde. Zu den gemeinsamen Einrichtungen zählt an dieser Stelle auch ein Mehrzweckraum mit TV-Anschluss für alle Bewohner*innen, „der spätestens zur Fußball-EM wichtig werden sollte“, wie Manthey augenzwinkernd erklärt. Weitere Einrichtungen für die gesamte Hausgemeinschaft sind der gut organisierte Fahrradraum mit 90 Fahrradlifts und ein kleiner Fitness- und Saunabereich.
„Der Investor hat sich zunächst nicht leicht getan mit den von Seiten der Stadt eingeforderten Gemeinschaftsflächen, weil deren Kosten auf den Quadratmeterpreis der Wohnungen umzulegen ist und eine Vermarktung zunächst erschweren“, berichtet Manthey von der schwierigen Konzeptionierungsphase. Doch sei eindeutig zu beobachten, dass die Möglichkeiten zur gemeinsamen Nutzung schon nach wenigen Monaten einen vielfältigen Austausch unter den neuen Hausbewohner*innen zur Folge hatten und die Identität und den Zusammenhalt der neuen Hausgemeinschaft fördern, so dass langfristig alle profitieren.
 
Besonders wichtig war im städtebaulichen Konzept eine zentrale autofreie Promenade als grünes Wohnzimmer für alle Bewohner*innen. Fast im ganzen Quartier werden die Fahrzeuge der Eigentümer*innen in Tiefgaragen untergebracht, damit sich der Flächenbedarf für Auto-Stellplätze im öffentlichen Raum weitgehend reduziert. Die Öffnung der Erdgeschosszone zum Freiraum, war eine logische Konsequenzen und eine wesentliche Forderung an die Einzelarchitekturen, um die man ebenfalls gemeinsam ringen musste.
„Aus einem zunächst für Abstellräume vorgesehenen Sockelgeschoss sind in diesem Entwurfsprozess fünf kleine Mansardenwohnungen mit einer Fläche von jeweils 60 Quadratmeter geworden“, erinnert sich Architekt Teicher, „die tatsächlich als erste Einheiten verkauft wurden.“ Fünf ledige junge Männer zogen ein und hatten schon im ersten Sommer gemeinsam den Grill aufgestellt – in der noch etwas unwirtlichen und staubigen Baustellen-Umgebung, deren Gestaltung naturgemäß noch eine Weile auf sich warten lässt. „Dieses ist ein Paradebespiel dafür, wie Architektur und Städtebau soziale Integration befördern können“, bekräftigt auch Stadtbaurat Kai-Uwe Hirschheide.

Altes Wissen neu interpretiert

Die ungewöhnliche Anmutung der Fassaden ist einem sehr innovativen bauphysikalischen Konzept geschuldet. Das Gestaltungshandbuch hatte zwei Varianten freigestellt: eine komplett monolithische Fassade, die bisher nahezu alle Bauträger gewählt haben, oder eine dynamische Dämmung mit einer so genannten Luftkollektor-Fassade. „Das Prinzip, das hier zur Anwendung kommt, ist uralt. Wir alle kennen die Spargelfelder mit ihrer schwarzen Folienabdeckung, die sich den gleichen Effekt zunutze machen“, visualisiert Professor Günter Pfeifer aus Darmstadt, der mit großem Engagement für das Konzept wirbt.
Mit seiner Fondation Kybernetik hat er das Gebäudeprinzip schon vor Jahren erforscht und in ersten Bauten zum Beispiel in Müllheim (2005) und Mannheim (2013) erprobt. Ziel ist eine effiziente Nutzung der Sonnenenergie. Das Gebäude soll Energie sammeln, verteilen und speichern. „Wir drehen den Spieß um“, sagt Pfeifer, „und schaffen Häuser, die weitgehend ohne klassische Dämmstoffe und dazu fast ohne Technik auskommen. Gleichzeitig versuchen wir, alle Ressourcen ins Gebäude zu führen.“
 
Das Kernstück ist eine Pufferzone mit anderen Temperaturwerten zwischen Innenwand und Außenhülle, die Pfeifer einen „kontrollierten Außenraum“ nennt. Hier wird die Temperatur stets höher sein als im tatsächlichen Außenraum. Der Wohnzwilling wurde im Sockelbereich als Klinker mit mineralischer Dämmung ausgeführt. In den Obergeschossen erhielt er keine Fassadendämmung, sondern einen Wandaufbau mit einer Massivwand aus Kalksandstein und einer vorgehängten, transparenten Fassade aus thermoplastischen Kunststoff-Fassadenplatten (Polycarbonat). Zwischen dem Mauerwerk und der Polycarbonat-Hülle, die auf einer Aluminium-Unterkonstruktion befestigt ist, befindet sich eine Luftschicht. Die Fassadenfläche wird zu einem großen Luftkollektor, vergleichbar einem Wintergarten, der auch im Winter und den Übergangzeiten in der Lage ist, Sonneneinträge zu nutzen.

Eingangs- und Foyerbereich des Wohnzwillings. Der Terrassensprung von Norden nach Süden wird geschickt ausgenutzt für eine Tribünensituation mit Sitzstufen.

 
Die Idee ist nicht neu. Bereits seit den 1960er Jahren hatten die Amerikaner mit Luftkollektoren experimentiert – unter ihnen auch der Visionär Richard Buckminster Fuller. Seit den 1990er Jahren steht mit der thermodynamischen Simulation eine Berechnungsmethode zur Verfügung, über die sich die notwendige Speicherfähigkeit der Wände rechnerisch ermitteln lässt. Für fast jeden Punkt in Deutschland sind die dafür notwendigen klimatischen Daten verfügbar.
Daniel Manthey hat sich von den Konzepten Pfeifers überzeugen lassen: „Klassisches Dämmen hat nur den Winterfall vor Augen und nicht die Überhitzung im Sommer.“ Er ist mit den Investoren bewusst das Risiko eingegangen und leistet ein Stück Pionierarbeit, indem er die erste sechsgeschossige Polycarbonat-Fassade in Deutschland umgesetzt hat, die auch andere von der Wirksamkeit dieser Systeme überzeugen soll. Dabei weicht nur die Fassade von einem konventionellen Bauvorhaben ab. Das Gebäude ist ansonsten ein einfacher Massivbau aus Kalksandstein – was zeigt, dass die Methode auch für die Sanierung von Altbauten durchaus geeignet wäre.
 
Ein Stück Pionierarbeit mit ausgeklügelten Details

Die äußere Hülle des Wohnzwillings besteht aus Mehrschichtplatten, die durch Lufteinschlüsse in den einzelnen Kammern eine gute Dämmwirkung bei gleichzeitiger Transparenz erreichen. Durch Sonneneinstrahlung wird Wärmeenergie auf die massive Wand übertragen und hier gespeichert. Kalksandstein hat gute Speichereigenschaften, aber vergleichsweise schlechte Dämmwerte. Die Polycarbonatplatte hält die Wärme in der Fassadenkonstruktion. Dieser Effekt ergibt sich in geringerem Maße auch auf nicht direkt besonnten Fassaden durch Diffusstrahlung. Trotz Minusgraden im Winter kann bei direkter Sonneneinstrahlung eine Temperatur von 60 Grad im Luftkollektor erreicht werden.
Für den Luftkollektor sind Bänder erforderlich, also Felder, in denen die Luft von unten nach oben durchströmen kann. Im Sommer verhindern integrierte Lüftungsklappen am oberen Ende und Lüftungsöffnungen unteren Ende ein Überhitzen der Fassade, die bei geöffneten Klappen ständig von unten nach oben mit Luft durchströmt wird, so dass die eingestrahlte Wärme abführt werden kann. Dieses wirkt einem Überhitzen der Wohnungen entgegen. Zwei Sensoren pro Fassade steuern das Öffnen und Schließen der Lüftungsklappen. In der Nacht wird durch die einströmende Kaltluft auch die in der Wand gespeicherte Wärme abgeleitet.
Ein Forschungsprojekt von Professor Lars Kühl, das aus Mitteln der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU/Osnabrück) ermöglicht wird, untersucht die tatsächliche Wirksamkeit des Systems über einen Zeitraum von mehreren Jahren. 48 zusätzliche Temperatur-Fühler pro Fassade wurden für dieses Monitoring in die Fassade integriert. Die thermodynamischen Berechnungen, welche die Grundlagen lieferten für den Solareintrag in den Fassaden für alle Himmelsrichtungen, die thermischen Strömungen im Fassadenzwischenraum sowie die Festlegung Öffnungsgrößen der Zu- und Abluft in der Fassade, stammen von der Firma Transsolar Energietechnik GmbH Stuttgart.
 
Recyclingfähig und ökologisch unbedenklich

Polycarbonat, das hier verbaut wurde, zeichnet sich durch eine hohe Transparenz, Wärmebeständigkeit, Kratzfestigkeit und große Stabilität aus. Die einzelnen Paneele der Fassade sind austauschbar. Zudem ist das Material recyclingfähig. Es wird unter anderem im Fahrzeugbau zum Beispiel für Heckscheiben eingesetzt und gilt sowohl in der Herstellung, als auch in der Entsorgung als ökologisch unbedenklich.
Ansonsten wurde der Wohnzwilling lediglich mit minimaler Haustechnik ausgestattet, um möglichst auf kostenintensive wiederkehrende Wartungsarbeiten verzichten zu können.
Weitere Informationen finden sich unter www.wolfsburg.de/hellwinkelterrassen und zum Tag der Architektur 2021 unter www.aknds.de.
 
Fotos: oh/Stadt Wolfsburg/Ali Altschaffel
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